
28.08.2022
Warum Knabenchor? Über Werte und Stellenwert
Im großen Sommerinterview von Die Stadtzeitung spricht Peter Pionke mit Lukas Baumann, dem neuen Musikalischen Leiter der Kurrende, und Tilman Klett, seinem Chormanager. Die beiden geben preis, was ihre Vision für den bergischen Chor ist, warum man gerade heute stolz darauf ist, Knabenchorarbeit zu leisten und welchen wichtigen Stellenwert die (musikalische) Ausbildungsarbeit für die Kinder und Jugendlichen unserer Stadt hat.
Die Stadtzeitung: Sie haben eine Kurrende-Vergangenheit, ist das für Sie so etwas wie ein nach Hause kommen?
Lukas Baumann: “Absolut. Ich habe selbst 12 Jahre in der Wuppertaler Kurrende gesungen und auch schon damals musikalische Assistenztätigkeiten wahrgenommen. Ich freue mich jetzt sehr darauf, in anderer Funktion als Chorleiter zurückzukommen, in bekannte Strukturen einzusteigen und meine eigenen Impulse zu setzen.”
DS: Was reizt Sie an dieser Aufgabe besonders?
Lukas Baumann: “Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein großer Knabenchor-Fan. Ich finde das Konzept sehr reizvoll, da hier ausschließlich Jungen und junge Männer zusammenkommen, um zu singen. Das ist in der heutigen Zeit durchaus schon außergewöhnlich. Dadurch entsteht eine ganz besondere, intensive Gemeinschaft und diese wirkt sich dann auch positiv auf den Klang eines Chores aus. Die Wuppertaler Kurrende hat darüber hinaus sehr professionelle Strukturen. Ich freue mich wahnsinnig, dass ich hier einsteigen und meine musikalischen Vorstellungen als Leiter verwirklichen kann.”
DS: Ist das Wort Knabenchor inzwischen nicht old-fashioned und nicht mehr zeitgemäß?
Lukas Baumann: “Das finde ich nicht. Knabenchöre haben eine jahrhundertealte Tradition. Sicher könnte man den Namen ändern und an die heutige Sprache anpassen. Dann würde man aber auch im gewissen Maße mit der Tradition brechen. Es gibt in Deutschland etwa 50 bis 60 Chöre, in denen nur Jungen singen, die alle unter der Bezeichnung Knabenchor laufen. Auch wenn das Wort Knabe vielleicht etwas veraltet ist, repräsentiert der Name Knabenchor doch eine erfolgreiche, unverwechselbare Marke.”
DS: Wo werden Sie als Chorleiter neue Impulse und Akzente setzten?
Lukas Baumann: “Ich lege bei den Proben großen Wert auf konzentrierte Arbeit. Natürlich möchte ich sehr gerne auch der Tradition treu bleiben. Es gibt viele Komponisten, die große Werke extra für Knabenchöre komponiert haben. Allen voran Johann Sebastian Bach, aber es gibt auch viele andere. Deren Werke können von Knabenchören so eindrucksvoll vorgetragen werden, wie von keinem gemischten Chor. Das ist klassische Musik, die man heute unbedingt noch in der authentischen Aufführungsweise präsentieren sollte. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch neue Impulse setzen, mit Werken von zeitgenössischen Komponisten, die wunderbare Musik für Chöre schreiben.”
Tilman Klett: “Jeder Chorleiter hat eigene klangliche Vorstellungen und auch einen eigenen stimmtechnischen Ansatz. Schon allein deshalb wird sich schon der Klang der Kurrende mit der Zeit weiter entwickeln und verändern. Damit wird dann eine eigene, neue Linie hörbar. Diese neue, auf Konzentration und Disziplin setzende Linie wird aber auch ganz sicher sichtbar werden. Dabei kann Lukas Baumann seine breit gefächerte Erfahrung, die er bei der Arbeit mit anderen Knabenchören gesammelt hat, erfolgversprechend miteinbringen.”
DS: Kurrende ist lateinisch und bedeutet „Laufchor” und war ursprünglich ein aus bedürftigen Schülern bestehender Chor an protestantischen Schulen, der unter Leitung eines älteren Schülers von Haus zu Haus zog oder bei Festen für Geld sang. Martin Luther gilt ja als Vorbild eines Kurrende-Sängers. Wie eng ist aktuell noch die Bindung zur evangelischen Kirche?
Tilman Klett: “Es kann selbstverständlich heute jeder Junge Mitglied werden in der Kurrende. Es gibt keine Eintrittsvoraussetzung, außer dass man eine Grundleidenschaft für das gemeinsame Musizieren mitbringen muss. Trotzdem haben wir als Traditions-Chor, der fast 100 Jahre alt ist, durchaus eine sehr enge Verbindung mit der evangelischen Kirche. Und das nicht nur wegen der umfangreichen institutionellen Förderung des Kirchenkreises, sondern vor allem durch unser gottesdienstliches Mitwirken in rund 15 Gottesdiensten in Gemeinden des Kirchenkreises pro Jahr. Grundsätzlich fungieren wir aber inzwischen als überkonfessionelle Einrichtung, die auch katholische Gottesdienste mitgestaltet und somit in ganz Wuppertal einen kulturellen Fußabdruck hinterlässt. Neben den Gottesdiensten singen wir vornehmlich Konzerte mit geistlichen Werken und bewahren damit das reiche Erbe der christlichen Chormusik.“
DS: Sie sagten gerade, dass jeder Junge Mitglied er Kurrende werden könne. Gilt das auch für Kinder von Andersgläubigen, beispielsweise für den Sohn muslimischer Eltern?
Tilman Klett „Auch Nicht-Gläubige oder Kinder muslimischen Glaubens können bei uns wie alle anderen mitsingen. Hier müssen die Familien das Verständnis mitbringen, dass die Jungen sich in unserer Chorgemeinschaft der Pflege christlicher Chormusik und dem damit verbundenen Verkündigungsgedanken widmen. Unabhängig vom eigenen kulturell-religiösen Hintergrund können die Jungen bei uns den wahnsinnig wertvollen Kulturschatz der Geistlichen Chormusik entdecken und von unserem Ausbildungsangebot und dem ganzheitlichen Bildungsansatz profitieren. Zugegebenermaßen finden nur selten muslimische Familien den Weg zu uns. Das ist aber sehr schade, da es dort so viele begabte Kinder gibt, deren Talent wir gern wecken und fördern möchten.“
DS: Wie schwer ist es eigentlich, Jungs in Zeiten, in denen sie sich lieber mit dem Smartphone und der Spielkonsole beschäftigen, für das Singen in einem Knabenchor zu begeistern?
Lukas Baumann: “Zur Wuppertaler Kurrende gehört neben der Musik und dem Singen auch das ausgeprägte Gemeinschaftserlebnis. Die Jungen und Jugendlichen kommen teilweise schon eine Stunde vor der Chorprobe zu uns, um Fußball, Basketball oder Tischtennis zu spielen. Oder einfach nur, um ihre besten Freunde zu treffen. Natürlich spielen auch unsere Jungs gern mit dem Smartphone, aber in den Proben ist es nicht gestattet. Auf unseren Reisen setzten wir bei den Kleinen gern auch auf Smartphone-Entzug, sodass die Jungs auch mal Karten spielen oder ein Buch in die Hand nehmen. Ich glaube, unser Knabenchor ist ein guter Gegenpol für diese immer rastloser werdende Gesellschaft.”
Tilman Klett: “Die Smartphone-Daddelei führt ganz sicher dazu, dass das Konzentrationsvermögen bei den Jungen abnimmt. Diese Erfahrung machen wir, aber auch die Schulen. Da ist es sicher sehr vorteilhaft, dass die Konzentration unserer Jungs in Proben und Konzerten stark gefordert wird. Bei uns machen sie einen Lernprozess durch, der sie für ihr späteres Leben nach dem Ausscheiden bei der Kurrende positiv prägt.”
DS: Kindes-Missbrauchsfälle gibt es nicht nur in der katholischen Kirche, sondern in Sportvereinen, Kindergärten, Internaten und auch in Knabenchören. Inwieweit gibt es in dieser Hinsicht in bei Ihnen eingebaute Sicherungen?
Tilman Klett: “Das Missbrauchsrisiko existiert leider gesamtgesellschaftlich. Deshalb steht der Schutz der Kinder bei uns auch an vorderster Stelle. Ich glaube, dass wir strukturell ein geringeres Risiko haben als andere Einrichtungen. Unsere Kinder sind in der Regel immer in Gruppen unterwegs. Das sorgt für einen gegenseitigen Schutz. Wir schulen und sensibilisieren ganz gezielt alle Mitarbeiter und auch die ehrenamtlichen Helfer, die meist betreuerische Aufgaben haben. Uns ist dennoch bewusst, dass es ein gewisses Rest-Risko gibt. Wir behalten bei diesem Thema einen wachen Blick. Das Gefährlichste in dem Zusammenhang ist nämlich Naivität.”
DS: Thematisieren Sie das auch in Gesprächen mit den Eltern?
Tilman Klett: “Wir führen mit allen Familien, die ihre Kinder in der Kurrende anmelden, ein ausführliches Kennenlerngespräch. Da geht es in erster Linie um die Anforderungen, die an die Kinder und Familien gestellt werden und die großen Chancen, die die Mitgliedschaft in der Kurrende bietet. Das Thema Missbrauch spielt in diesen Gesprächen bislang keine große Rolle, es sei denn, es wird von den Eltern ausdrücklich angesprochen. Es wäre wohl auch nicht zielführend, es überproportional zu betonen. Am Ende ist entscheidend, dass wir hinreichende Sicherungsmaßnahmen für die Kinder installieren und sich alle bei uns sicher und wohlfühlen.”
DS: Wie funktioniert überhaupt der Austausch mit den Eltern, die sich – das sieht man in den Schulen und Gymnasien – heute viel mehr als früher einbringen und Mitsprache fordern?
Tilman Klett: “Wir stehen im ständigen Austausch mit den Elternhäusern. Dieses eben erwähnte Eingangsgespräch ist besonders wichtig, damit die Familien wissen, worauf sie sich einlassen. Wir haben einen Kulturbewahrungsauftrag und verfolgen in diesem Sinne eine sehr klare inhaltliche und pädagogische Linie. Die Eltern spüren im besten Fall schnell, dass unser Konzept funktioniert, und tragen es in der Regel mit.”
DS: Gerade bei einem so ambitionierten und erfolgreichen Chor wie der Kurrende muss zwangsläufig das Leistungsprinzip herrschen. Wie schwer ist es, jungen Bewerbern und deren Eltern klarzumachen, dass das Talent doch nicht ausreicht?
Lukas Baumann: “Es kommt bei uns fast nie vor, dass wir einen Jungen ausschließen und nach Hause schicken müssen. Die Kinder, die bei uns angemeldet werden, sind meist mit ihrer musikalischen Kindererziehung bereits im Kindergarten oder im ersten oder zweiten Schuljahr gestartet. Die jungen Einsteiger kommen dann erst einmal in einen unserer Nachwuchschöre. Hier lernen sie das Singen von Grund auf und auch die Musiktheorie und alles, was dazu gehört. Mit steigender Erfahrung wird es dann anspruchsvoller für die Jungen. Ein Chor setzt sich immer aus Mitgliedern zusammen, die anführen und anderen, die eher mitgezogen werden. Unsere Ausbildung dauert mehrere Jahre. Der letzte Schritt ist dann die Aufnahme in unseren großen Konzertchor. 99 Prozent erreichen dieses Ziel auch.”
Tilman Klett: “Apropos Leistungsprinzip: Uns ist klar, dass wir den Familien eine Menge abverlangen. Wir haben rund 50 Konzerte und Mitwirkungen im Jahr, was viel Zeit Anspruch nimmt und Commitment fordert. Aber dafür können wir den Kindern tatsächlich auch viel mehr bieten als andere Institutionen in der Region: jährliche, internationale Konzertreisen, hochwertige oratorische Projekte mit renommierten Profiorchestern. Dadurch wollen wir die Leidenschaft für Leistung in den Kindern wecken. Und dass es Spaß macht, hart und mit langem Atem für eine ganz bestimmte Sache zu arbeiten. Wir proben ja nicht ein halbes Jahr lang, um dann „nur“ die schönen Gottesdienste in Wuppertal musikalisch zu bereichern, sondern gehen nach den langwierigen Proben auf große Konzertreisen. Das ist ein wichtiger Bestandteil unseres pädagogischen Konzepts. In wenigen Wochen reisen wir beispielsweise nach Südfrankreich, haben unter anderem Konzerte in Lyon und Marseille. Das ist ein schönes Geschenk für die Jungen. Denn dann wissen sie, dass sich harte Arbeit lohnt. Leistung und Leidenschaft gehören bei uns ganz eng zusammen. Wenn die Kinder dies verinnerlichen, kann sich das auch auf alle anderen Bereiche im Leben übertragen. Genau das ist unser pädagogisches Ziel.”
DS: Wie viele Jungen bleiben denn der Musik erhalten, wenn sie die Kurrende verlassen?
Lukas Baumann: “Da haben wir keine Zahlen. Es sind immer wieder einzelne, die dann später als Sänger oder Musiker Karriere machen. Das ist vergleichbar mit den Jugendfußballern in den Nachwuchsmannschaften der großen Vereine: die werden auch nicht alle Profis. Es geht uns auch gar nicht darum, dass unsere Kurrende-Mitglieder Profi-Musiker werden, sondern vielmehr Überzeugungstäter. Das kann man auf alle Lebensbereiche übertragen. Chormitglieder, die uns am Ende verlassen und dann ins Berufsleben starten, sind Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen, parkettsicher sind, Auftrittserfahrung haben, die wissen, wie man sich schick kleidet, wie man sich auf einer Bühne verhält. Sie bringen alle Voraussetzungen mit, Führungspersönlichkeiten zu werden. Die allermeisten Sänger behalten den Gesang ein Leben lang als Hobby und singen in Kammer- oder Oratorienchören.”
DS: Welche besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten müssen potenzielle Knabenchor-Sänger mitbringen?
Lukas Baumann: “Grundsätzlich Leidenschaft und Engagement. Alles, was das Singen angeht, kann man bei uns lernen.”
Tilman Klett: “Leidenschaft und Engagement würde ich noch durch Neugierde und Energie ergänzen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jungen in dem Alter sehr energiegeladen sind und diese Energie in der Schule nicht zwingend loswerden. Diese Energie können sie dann bei uns in höchste Konzentration und tolles Singen umwandeln. Die Eingangsvoraussetzungen sind also ziemlich niedrig, auch was die finanziellen Voraussetzungen angeht. Bis uns kann jeder mitmachen, unabhängig vom Geldbeutel des Elternhauses. Der Monatsbeitrag, der auch die wöchentliche Einzelstimmbildung einschließt, liegt derzeit bei 35 €. Zum Vergleich: 30 Minuten Klavierunterricht in einer Musikschule kosten schon 60 € im Monat. Und selbst wenn die Eltern die 35 € im Monat nicht stemmen können, haben wir zahlreiche Möglichkeiten für Stipendien.”
DS: Wie sorgen Sie dafür, dass ihre jungen Chormitglieder, die ja doch irgendwie privilegiert sind, viel von der Welt sehen, vom Publikum mit Applaus überschüttet werden, mit den Füßen auf dem Teppich bleiben?
Lukas Baumann: “Die Gemeinschaft regelt das, das ist mein Eindruck. Es gibt sicherlich wie überall immer Kinder oder pubertäre Jugendliche, die einmal übers Ziel hinausschießen. Ich glaube aber, dass eine funktionierende Gemeinschaft von Jungen immer dafür sorgt, dass die Bodenhaftung gewahrt bleibt.“
Tilman Klett: „Ganz wichtig ist der Aspekt des Dienstes, den unsere Jungen leisten. Das müssen die Kinder verstehen. Deshalb ist der Gottesdienst ein Instrument, das dafür sorgt, dass die Kinder die Bodenhaftung behalten. Deshalb heißt es bei uns regelmäßig: ‘Jungs, am Sonntag wird um sieben Uhr aufgestanden, damit wir zur Freude der Menschen in den Gottesdiensten singen.’ Selbstbewusstsein und Parkettsicherheit sind uns sehr wichtig, aber die Bodenhaftung soll dabei auf keinen Fall verloren gehen. Wir sind eine robuste Gemeinschaft, die auch in der Lage ist, als Korrektiv zu wirken.”
DS: Herr Baumann, welche Instrumente beherrschen Sie selbst?
Lukas Baumann: “Ich spiele Klavier und habe früher Posaune gespielt, aber das ist schon lange her.”
DS: Welche Musik hören Sie privat?
Lukas Baumann: “Ganz durchmischt, von Bach bis Beatles eigentlich alles.”
DS: Welche Hobbys haben Sie neben der Musik?
Lukas Baumann: “Ich bin leidenschaftlicher Fußballfan. Mein Lieblingsverein ist Borussia Dortmund. Ich spiele auch selbst gern Fußball oder Tischtennis.”
DS: Last but not least: Gibt es für Sie so etwas wie einen Lebenstraum?
Lukas Baumann: “Seit meinem Musikstudium hatte ich den Wunsch, irgendwann einmal einen eigenen Knabenchor zu leiten. Und das ist jetzt passiert. Ich freue mich sehr auf die Arbeit in Wuppertal und werde diese genießen.”
DS: Vielen Dank für das interessante, spannende und offene Gespräch!
Das Interview führte Peter Pionke, Die Stadtzeitung Wuppertal