DS: Sie haben eine Kurrende-Vergangenheit, war ihr Weg zur Kurrende im Jahr 2022 Sie so etwas wie ein nach Hause kommen?
Lukas Baumann: „Absolut. Ich habe selbst 12 Jahre in der Wuppertaler Kurrende gesungen und auch schon damals musikalische Assistenztätigkeiten wahrgenommen. Ich freue mich jetzt sehr darauf, in anderer Funktion als Chorleiter zurück zu sein, in bekannten Strukturen zu arbeiten und meine eigenen Impulse zu setzen.“
DS: Was reizt Sie an dieser Aufgabe besonders?
Lukas Baumann: „Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein großer Knabenchor-Fan. Ich finde das Konzept, dass hier ausschließlich Jungen und junge Männer gemeinsam singen, sehr reizvoll. Das ist in der heutigen Zeit durchaus schon außergewöhnlich. Dadurch entsteht eine ganz besondere, intensive Gemeinschaft und diese wirkt sich dann, neben den stimmphysiologischen von Jungen, auch positiv auf den Klang eines Chores aus. Die Wuppertaler Kurrende hat darüber hinaus sehr professionelle Strukturen. Ich freue mich wahnsinnig, dass ich hier arbeiten und meine musikalischen Vorstellungen als Leiter verwirklichen kann.“
DS: Ist das Wort Knabenchor inzwischen nicht old-fashioned und nicht mehr zeitgemäß?
Lukas Baumann: „Das finde ich nicht. Knabenchöre haben eine jahrhundertealte Tradition. Sicher könnte man den Namen ändern und an die heutige Sprache anpassen. Dann würde man aber auch im gewissen Maße mit der Tradition brechen. Es gibt in Deutschland etwa 50 bis 60 Chöre, in denen nur Jungen singen, die alle unter der Bezeichnung Knabenchor laufen. Auch wenn das Wort Knabe vielleicht etwas veraltet ist, repräsentiert der Name Knabenchor doch eine erfolgreiche, unverwechselbare Marke.“
DS: Wo setzen Sie Ihre Impulse und Akzente als Chorleiter?
Lukas Baumann: „Ich lege bei den Proben großen Wert auf konzentrierte und leistungsorientierte Arbeit. Natürlich möchte ich dabei sehr gerne den reichen Traditionen der Kurrende treu bleiben. Es gibt viele Komponisten, die große Werke extra für Knabenchöre komponiert haben. Allen voran Johann Sebastian Bach, aber es gibt auch viele andere. Deren Werke können von Knabenchören so eindrucksvoll vorgetragen werden wie von keinem gemischten Chor. Das ist klassische Musik, die man heute unbedingt noch in der authentischen Aufführungsweise präsentieren sollte. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch neue Impulse setzen mit Werken von zeitgenössischen Komponisten, die wunderbare Musik für Chöre schreiben.“
Tilman Klett: „Jeder Chorleiter hat eigene klangliche Vorstellungen und auch einen eigenen stimmtechnischen Ansatz. Schon allein deshalb verändert sich der Klang unseres Chores unter der immer noch recht neuen Leitung. Damit wird dann eine eigene, neue Linie hörbar. Diese neue auf Konzentration und Disziplin setzende Linie wird sich auf den Chorklang auswirken aber auch sichtbar werden. Dabei kann Lukas Baumann seine breit gefächerte Erfahrung, die er bei der Arbeit mit anderen teils sehr renommierten Knabenchören gesammelt hat, erfolgversprechend einbringen.“
DS: Kurrende ist lateinisch und bedeutet „Laufchor“ und war ursprünglich ein aus bedürftigen Schülern bestehender Chor an protestantischen Schulen, der unter Leitung eines älteren Schülers von Haus zu Haus zog oder bei Festen für Geld sang. Martin Luther gilt ja als Vorbild eines Kurrende-Sängers. Wie eng ist aktuell noch die Bindung zur evangelischen Kirche?
Tilman Klett: „Es kann selbstverständlich heute jeder Junge Mitglied werden in der Kurrende. Es gibt keine Eintrittsvoraussetzung, außer dass man eine Grundleidenschaft für das gemeinsame Musizieren mitbringen muss. Trotzdem haben wir als Traditions-Chor, der fast 100 Jahre alt ist, durchaus eine sehr enge Verbindung mit der evangelischen Kirche. Und das nicht nur wegen der umfangreichen institutionellen Förderung des Kirchenkreises, sondern vor allem durch unser gottesdienstliches Mitwirken in rund 15 Gottesdiensten in Gemeinden des Kirchenkreises pro Jahr. Dadurch nehmen wird am Verkündigungsauftrag des Kirchenkreises teil. Grundsätzlich fungieren wir aber inzwischen als überkonfessionelle Einrichtung, die selbstverständlich auch in katholischen Gotteshäusern singt und somit in ganz Wuppertal einen kulturellen Fußabdruck hinterlässt. Neben den Gottesdiensten singen wir vornehmlich Konzerte mit geistlichen Werken und bewahren damit das reiche Erbe der christlichen Chormusik.“
DS: Sie sagten gerade, dass jeder Junge Mitglied der Kurrende werden könne. Gilt das auch für Kinder von Andersgläubigen, beispielsweise für den Sohn muslimischer Eltern?
Tilman Klett „Auch Nicht-Gläubige oder Kinder muslimischen Glaubens können bei uns genau wie alle anderen mitsingen. Hier müssen die Familien das Verständnis mitbringen, dass die Jungen sich in unserer Chorgemeinschaft der Pflege christlicher Chormusik und dem Verkündigungsgedanken widmen. Unabhängig vom eigenen kulturell-religiösen Hintergrund können die Jungen bei uns den wahnsinnig wertvollen Kulturschatz der geistlichen Chormusik entdecken und von unserem Ausbildungsangebot und dem ganzheitlichen Bildungsansatz profitieren. In jeder Religionsgemeinschaft gibt es viele begabte Kinder, deren Talent wir wecken und fördern möchten.“
DS: Wie schwer ist es eigentlich, Jungs in Zeiten, in denen sie sich lieber mit dem Smartphone und der Spielkonsole beschäftigen, für das Singen in einem Knabenchor zu begeistern?
Lukas Baumann: „Zur Wuppertaler Kurrende gehört neben der Musik und dem Singen auch das ausgeprägte Gemeinschaftserlebnis. Die Jungen und Jugendlichen kommen oft schon eine Stunde vor der Chorprobe zu uns, um Fußball, Basketball oder Tischtennis zu spielen. Oder einfach nur, um ihre besten Freunde zu treffen. Natürlich spielen auch unsere Jungs gerne mit dem Smartphone, in den Proben ist es aber nicht gestattet, da wir uns ganz auf die musikalische Arbeit konzentrieren müssen. Auf unseren Reisen setzten wir bei den Kleinen gerne auch auf Smartphone-Entzug, sodass die Jungs auch mal Karten spielen oder ein Buch in die Hand nehmen. Ich glaube, unser Knabenchor ist ein guter Gegenpol für diese immer rastloser werdende Gesellschaft.“
Tilman Klett: „Die Smartphone-Daddelei führt ganz sicher dazu, dass allgemein das Konzentrationsvermögen von Kindern abnimmt. Diese Erfahrung machen wir, aber auch die Schulen. Da ist es sicher sehr vorteilhaft, dass unsere Jungs in Proben und Konzerten konzentrativ stark gefordert werden. Bei uns machen sie einen Lernprozess durch, der sie für ihr späteres Leben nach dem Ausscheiden bei der Kurrende positiv prägt. Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltevermögen sind schließlich überall gefordert.“
DS: Gerade bei einem so ambitionierten und erfolgreichen Chor wie der Kurrende muss zwangsläufig das Leistungsprinzip herrschen. Wie schwer ist es, jungen Bewerbern und deren Eltern klarzumachen, dass das Talent doch nicht ausreicht?
Lukas Baumann: „Es kommt bei uns fast nie vor, dass wir einen Jungen ausschließen und nach Hause schicken müssen. Die Kinder, die bei uns angemeldet werden, sind meist mit ihrer musikalischen Kindererziehung bereits im Kindergarten oder im ersten oder zweiten Schuljahr gestartet. Die jungen Einsteiger kommen dann erst einmal in einen unserer Nachwuchschöre. Hier lernen sie das Singen von Grund auf und auch die Musiktheorie und alles, was dazu gehört. Mit steigender Erfahrung wird es dann anspruchsvoller für die Jungen. Ein Chor setzt sich immer aus Mitgliedern zusammen, die anführen und anderen, die eher mitgezogen werden. Unsere Ausbildung dauert mehrere Jahre. Der letzte Schritt ist dann die Aufnahme in unseren großen Konzertchor. Wenn ein Junge wirklich will, erreicht er dieses Ziel auch.“
Tilman Klett: „Apropos Leistungsprinzip: Uns ist klar, dass wir den Familien eine Menge abverlangen. Wir haben rund 50 Konzerte und Mitwirkungen im Jahr, was viel Zeit in Anspruch nimmt und Commitment fordert. Aber dafür können wir den Kindern tatsächlich auch viel mehr bieten als andere Institutionen in der Region: jährliche, internationale Konzertreisen, hochwertige oratorische Projekte mit renommierten Profiorchestern. Dadurch wollen wir die Leidenschaft für Leistung in den Kindern wecken. Und dass es Spaß macht, hart und mit langem Atem für eine ganz bestimmte Sache zu arbeiten. Wir proben ja nicht ein halbes Jahr lang, um dann „nur“ die schönen Gottesdienste in Wuppertal musikalisch zu bereichern, sondern gehen nach den langwierigen Proben auf große Konzertreisen. Arbeit wird bei uns also belohnt. Die Jungen und Jugendlichen sollen mit Leistungswillen und Leidenschaft auf die großen Projekte hinarbeiten. Wenn die Kinder dies verinnerlichen, kann sich das auch auf alle anderen Bereiche im Leben übertragen. Genau das ist unser pädagogisches Ziel.“
DS: Welche besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten müssen potenzielle Knabenchor-Sänger mitbringen?
Lukas Baumann: „Grundsätzlich Leidenschaft und Engagement. Alles, was das Singen angeht, kann man bei uns lernen.“
Tilman Klett: „Leidenschaft und Engagement würde ich noch durch Neugierde und Energie ergänzen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jungen in dem Alter sehr energiegeladen sind und diese Energie in der Schule nicht zwingend loswerden. Diese Energie können sie dann bei uns in höchste Konzentration und tolles Singen umwandeln. Die Eingangsvoraussetzungen sind also niedrig, auch was die finanziellen Voraussetzungen angeht. Bei uns kann jeder mitmachen, unabhängig vom Geldbeutel des Elternhauses. Der Monatsbeitrag, der auch die wöchentliche Einzelstimmbildung einschließt, liegt derzeit bei 35 €.
Zum Vergleich: wöchentlich 30 Minuten Klavierunterricht an der Musikschule kosten schon 60 € im Monat. Und selbst wenn die Eltern die 35 € im Monat nicht stemmen können, haben wir zahlreiche Möglichkeiten für Stipendien.“
DS: Wie sorgen Sie dafür, dass ihre jungen Chormitglieder, die ja doch irgendwie privilegiert sind, viel von der Welt sehen, vom Publikum mit Applaus überschüttet werden, mit den Füßen auf dem Teppich bleiben?
Lukas Baumann: „Die Gemeinschaft regelt das, das ist mein Eindruck. Es gibt sicherlich wie überall immer Kinder oder pubertäre Jugendliche, die einmal übers Ziel hinausschießen. Ich glaube aber, dass eine funktionierende Gemeinschaft von Jungen immer dafür sorgt, dass die Bodenhaftung gewahrt bleibt.“
Tilman Klett: „Ganz wichtig ist der Aspekt des Dienstes, den unsere Jungen leisten. Das müssen die Kinder verstehen. Deshalb ist der Gottesdienst auch ein pädagogisches Instrument, das dafür sorgt, dass die Kinder die Bodenhaftung behalten. Deshalb heißt es bei uns regelmäßig: ‚Jungs, am Sonntag wird um halb acht aufgestanden, damit wir zur Freude der Menschen in den Gottesdiensten singen.‘ Selbstbewusstsein und Parkettsicherheit sind uns sehr wichtig, aber die Bodenhaftung soll dabei auf keinen Fall verloren gehen. Wir sind eine robuste Gemeinschaft, die auch in der Lage ist, als Korrektiv zu wirken.“
DS: Vielen Dank für das interessante, spannende und offene Gespräch!
Das Interview (Amd. d. Redaktion: leicht gekürzt und angepasst) führte Peter Pionke, Die Stadtzeitung Wuppertal